„Vorreiter für EU-Verteilungsschlüssel werden“: Lambsdorff fordert im ZDF-MoMa einen Sondergipfel auf EU-Ebene zur Flüchtlingspolitik

06.09.15 • JEZT AKTUELL, POLITIK & URBANES LEBEN, STARTKeine Kommentare zu „Vorreiter für EU-Verteilungsschlüssel werden“: Lambsdorff fordert im ZDF-MoMa einen Sondergipfel auf EU-Ebene zur Flüchtlingspolitik

JEZT - FDP Europaabgeordneter Alexander Graf Lambsdorff - Foto © FDP

Ein Sondergipfel der europäischen Staats- und Regierungschefs ist aus Sicht von Alexander Graf Lambsdorff (Foto) der richtige Weg, um Druck auf Staaten, die keine Flüchtlinge aufnehmen, aufzubauen. „Ich kann nicht verstehen, warum die Kanzlerin immer wieder gesagt hat, dass wir keinen Sondergipfel brauchen“, kritisierte der Vizepräsident des EU-Parlaments im Interview mit Mitri Sirin im „ZDF-Morgenmagazin“ (MoMa).

Vor ihrer Sommerkonferenz hätten sich Bundesregierung und Kanzlerin Angela Merkel (CDU) eine ausführliche Sommerpause gegönnt und die Gemeinden die Last schultern lassen – obwohl die Flüchtlingskrise sich bereits seit dem Frühjahr abgezeichnet habe, konstatierte Lambsdorff. „Das war sehr spät und sehr wenig.“ Über die Versprechungen von Merkel dürfe nicht vergessen werden, dass Italien und Griechenland schon lange auf eine Reform der europäischen Flüchtlings- und Einwanderungspolitik gedrängt hätten.

Aktuell gebe es zwei unterschiedliche Fluchtbewegungen nach Deutschland, berichtete Lambsdorff. „Das eine sind Syrer und Iraker, die ohne Zweifel einen Schutzanspruch haben. Der andere Strom sind Menschen aus dem Balkan, die haben überhaupt keine Chance, hier ein Bleiberecht zu bekommen.“ Die Freien Demokraten fordern deswegen die Wiedereinführung der 2013 abgeschafften Visumspflicht, „damit eben nicht erst hier bei uns vor Ort entschieden wird, wer bleiben kann“.

Flankierend sollte die Bundesrepublik auf dem Balkan Anwerbung von Fachkräften betreiben, schlug der Freidemokrat vor. Er führte aus: „Ich glaube, so wird aus der chaotischen Flucht vielleicht eine geordnete Zuwanderung.“
Europäische Solidarität ist Geben und Nehmen

„Es entziehen sich einige Länder der europäischen Solidarität; alle machen, was sie wollen. Mit anderen Worten: So ein Gipfel ist längst überfällig“, stellte Lambsdorff klar. Insbesondere diejenigen Staaten, die mit der Osterweiterung 2004 in die Union aufgenommen worden waren, zeigten sich angesichts der Flüchtlingsströme wenig solidarisch, monierte Lambsdorff. „Das ist etwas, das ich nicht verstehe. Jetzt sind die Tschechen, die Polen, die Ungarn, alle anderen auch gefordert, etwas zu tun.“ Auch Großbritannien gebe keine gute Figur ab.

Um zu einem gemeinsamen europäischen Verteilungsschlüssel zu kommen, wäre es sinnvoll – so der Vorschlag der Freien Demokraten –, dass die Länder, die sich auf eine gemeinsame Linie einigen könnten, „einen Schlüssel untereinander vereinbaren, dem sich dann die anderen Länder anschließen können“. Auf einem Gipfel könnte dafür der notwendige Druck erzeugt werden, betonte Lambsdorff.

JEZT - Alexander Graf Lambsdorff im ZDF MoMa - Foto © ZDF

Alexander Graf Lambsdorff im ZDF-„MorgenMagazin“ – Foto © ZDF

Lesen Sie hier das gesamte ZDF MoMa-Interview:

Mitri Sirin: In der Finanzkrise jagte ein Gipfel den nächsten. Irgendein Regierungschef kam immer aus irgendeiner nächtlichen Runde relativ müde und jetzt fragt man sich: In der Flüchtlingskrise, was passiert da eigentlich? Es scheint auf viele eine Hilflosigkeit.

Lambsdorff: Das ist völlig richtig und den Eindruck gibt es nicht nur in Deutschland, den gibt es auch hier in Brüssel. Ich kann nicht verstehen, warum die Bundeskanzlerin über Wochen und Monate geschwiegen hat. Zu den Finanzfragen wurden immer wieder Gipfel veranstaltet, aber hier, obwohl die Krise ja schon lange andauert, wurde immer gesagt: Wir brauchen gar keinen Sondergipfel, das ist keine Chef-Sache, wir kriegen das schon hin. Wir haben an den Beiträgen eben gerade gesehen: Man kriegt es eben nicht hin. Es entziehen sich einige Länder der europäischen Solidarität. Alle machen, was sie wollen. Das heißt mit anderen Worten: So ein Gipfel ist längst überfällig.

Obwohl Merkel hat gerade auch zuletzt auf ihrer Sommerpressekonferenz schon Solidarität eingefordert – Deutschland leistet im Vergleich zu anderen Ländern recht viel. Wieso haben sich die EU-Spitzen auch relativ oft und massiv zurückgehalten, gerade vielleicht auch der Kommissionspräsident Juncker?

Frau Merkel hat jetzt eine Sommerpressekonferenz gemacht, nachdem die Krise bereits im Frühjahr losgegangen ist. Und vorher hat die gesamte Bundesregierung eine ausführliche Sommerpause eingelegt und die Kommunen, die Gemeinden vor Ort, die freiwilligen Helfer diese Last schultern lassen. Also das war sehr spät, und das war sehr wenig. Wir dürfen auch eines nicht vergessen: Italien und Griechenland haben schon lange gesagt, die Dublin-Verordnung wird nicht funktionieren, wenn eine Krise kommt; wir brauchen eine neue Regelung. Und da hat gerade die CDU, da hat gerade diese Bundesregierung immer gesagt: Nein, Dublin wird schon irgendwie funktionieren. Jetzt sehen wir genau, das ist eingetreten, was alle befürchtet haben.
Deutschland leistet wahnsinnig viel vor Ort. Die Menschen helfen, die Freiwillige Feuerwehr, die Fußballvereine, das Deutsche Rote Kreuz. Aber die Bundesregierung hat sich diesen Rufen aus Rom und aus Athen verweigert über viele, viele Monate.

Ich glaube, man kann nicht nur in Richtung Bundesregierung zeigen. Viele tragen da Schuld. Wie muss man jetzt die Außengrenzen schützen? Wie kann man Griechenland, wie kann man Italien, beispielsweise auch Ungarn unterstützen? Wer muss vorangehen?

Das ist genau die richtige Frage: Wie geht es jetzt eigentlich weiter? Was kann man tun? Wir haben ja zwei Flüchtlingsströme nach Deutschland. Das eine sind die Syrer und Iraker, die ohne jeden Zweifel einen Schutzanspruch haben. Sie kommen aus Bürgerkriegsgegenden. Der andere Strom aber, das sind Menschen vom Balkan, das sind Menschen aus Serbien, aus Bosnien, aus Albanien, aus dem Kosovo. Die haben überhaupt keine Chance, hier ein Bleiberecht zu bekommen. Deswegen sagen wir als Freie Demokraten: Wir müssen die 2013 abgeschaffte Visumspflicht für diese Länder, diese Freiheit, die jetzt missbraucht wird, wir müssen diese Visumspflicht wieder einführen. Damit wird eben nicht erst bei uns vor Ort entschieden, wer bleiben kann und wer eine Chance hat, sondern dass die Außengrenze der Europäischen Union überhaupt nur dann übertreten werden kann, wenn es ein gültiges Visum gibt. Gleichzeitig, das will ich auch deutlich sagen, wissen wir, dass in der Wirtschaft viele Fachkräfte gesucht werden. Der Präsident der Deutschen Handwerkskammer hat das gerade auch ganz deutlich gesagt. Deswegen sollten wir hingehen und Anwerbung machen dort auf dem Balkan, dass die Menschen eben nicht als Asylanten kommen, sondern als Arbeitskräfte oder Auszubildende. Ich glaube, so wird aus einer chaotischen Flucht vielleicht eine geordnete Zuwanderung.

Das ist ein Blick, der die mittlere Zukunft betrifft. Viele wollen jetzt natürlich erst mal Lösungen. Und da hat Europa erst mal freiwillige Quotierungen vorgeschlagen. Viele osteuropäische Länder haben gesagt, da machen wir nicht mit. Da haben die Litauer gesagt, wir müssen den Menschen in der Ukraine helfen. Die Polen haben gesagt, wir haben gar keine Moscheen, wo wir die ganzen Flüchtlinge hinleiten. Die Tschechen haben Angst vor Terroristen. Wie kann man die osteuropäischen Länder dazu bewegen, mitzumachen?

Durch politischen Druck. Das ist genau eines der Themen, die ich als überzeugter Europäer auch überhaupt nicht gut finde. Diese Länder haben seit ihrem EU-Beitritt 2004 sehr viel Hilfe erfahren, sehr viel Unterstützung, viel europäische Solidarität bekommen. Jetzt sind sie auch gefordert. Jetzt sind die Tschechen, die Polen, die Ungarn, alle anderen auch gefordert, auch die Balten, etwas zu tun. Ich will auch sagen, dass die Engländer hier ein ganz schlechtes Bild abgeben. Herr Cameron, der ja die Europäische Union reformieren will, entzieht sich hier auch seiner Verantwortung, um das ganz deutlich zu sagen. Deswegen ist genau der Gipfel nötig über den wir am Anfang gesprochen haben. Jean-Claude Juncker, der Kommissionspräsident, hat Vorschläge gemacht. Er hat nicht geschwiegen. Das wird gerne gesagt. Aber das stimmt nicht. Es soll einen Verteilungsschlüssel geben. Wir sagen als FDP: Sinnvoll wäre, wenn es nicht alle Länder von Anfang an mitmachen wollen, sollten zumindest die Länder vorangehen, die sich freiwillig bereiterklären, etwas zu machen. Diese sollten untereinander einen Schlüssel vereinbaren, dem sich dann die anderen Länder anschließen können. Auf einem Gipfel könnte dafür der notwendige Druck erzeugt werden. Und den muss die Bundesregierung machen.





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