17 TAGE EUROPA: Dienstag 2002-07-30 | ABSTECHER ANS MEER, OHNE ES ZU BETRETEN

30.07.17 • INTERESSANTES, JEZT AKTUELL, KULTUR & BILDUNG, STARTKeine Kommentare zu 17 TAGE EUROPA: Dienstag 2002-07-30 | ABSTECHER ANS MEER, OHNE ES ZU BETRETEN

Der sechste Tag: St. Remy/Mâcon/Lyon/Orange/Arles/Saintes-Maries-de-la-Mer

Losung am 30. Juli

„Mancher Mensch hat ein großes Feuer in seiner Seele,
und niemand kommt, um sich daran zu wärmen.“
(Vincent van Gogh)

In Mâcon fängt der Süden Frankreichs an, sagt man; es ist sozusagen die nördlichste Stadt Südfrankreichs und mein Zwischenstopp am heutigen Tag. Dass Mâcon vor vier Tagen Ankunftsort der vorletzten Etappe der Tour de France ’02 war, sieht man überall. Stolz wie echte Sportler fahren die Menschen in Mâcon durch ihre Stadt. Selbstverständlich nicht auf dem Fahrrad. Dafür gibt es ja die Tour. Nein: Der junge urbane Franzose bewegt sich auf dem Motorrad durch die Gassen, dies mit einer irrwitzigen Geschwindigkeit und natürlich gekonnt. Die junge urbane Französin zieht da eher das Automobil vor, denn sollte sie auf dem Sozius sitzen, dann bestimmt nicht lange – das bedingt schon allein das 1. Newtonsche Gesetz der Schwerkraft. Deshalb fährt sie Automobil und dies dazu noch mit ebenso irrwitziger Geschwindigkeit wie der männliche Motorradfahrer. Dass beide keine schweren Unfälle verursachen, ist im Grunde nur logisch und liegt in der Natur der Sache: beide bewegen sich so schnell im Straßenverkehr, dass die Chance eines Zusammenpralls reziprok zur Geschwindigkeit abnimmt.

Dieses Mal habe ich die Landstraße gewählt, nicht wegen der jungen urbanen Franzosen, sondern weil die Landstraße in den Süden nicht so stark befahren ist wie die Autobahn und man dort auch viel mehr sehen kann. Je weiter man nach Süden vor stößt, desto mehr Sonnenblumenfelder gibt es und natürlich Kornfelder, die teilweise gerade frisch gemäht wurden. Ich vergaß zu sagen, dass es nach wie vor heiß ist. Auch vergaß ich zu erwähnen, dass der Künstler, der gestern vor 112 Jahren gestorben ist, Sonnenblumen ebenso wie Kornfelder sehr gemocht hatte.

champ de tournesol à Arles 2002-07-30

Auf meiner Reiseroute des heutigen Tages liegen laut „Le Figaro“ die heißesten Orte Frankreichs an diesem 30. Juli 2002. Dazu zählt auch Orange, die Stadt, der die Niederländer ewig dankbar sind, denn ohne sie gäbe es die Oranier nicht, deren britischer Zweig jedes Jahr geräuschvoll durch Belfast marschiert, dessen niederländischer Stamm aber seit dem Abfall von Spanien, geschehen auf den Tag genau vor 421 Jahren – man lese es nach bei Friedrich Schillers grandiosem Frühwerk „Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der spanischem Regierung“ – das Land der Windmühlen (und somit auch die Heimat des Mannes, der sich einst in die Brust geschossen hat) regiert und den Oranje-Kult kreierte.

In der Stadt Orange in Frankreich – ich sause aus Zeitgründen schnell hindurch – waren dagegen früher die Römer zugange und es gibt dort noch ein fast unbeschädigtes Amphitheater, zu dem Europäer des 21. Jahrhunderts „Open-Air-Bühne“ sagen würden. Das Amphitheater in Orange hat noch die originale Spielfläche und ein echter römischer Augustus Kopf steht daneben. All das hat die Jahrtausende unbeschädigt überstanden und ich fand es im heißen und staubigen Orange. In der Tat: es ist durchaus staubig geworden im Rhônetal, verglichen mit Burgund.

Arles 2002-07-30

Ich verlasse Orange am Mittag und fahre noch etwas weiter südlich nach Arles, der Stadt die der un-heilige Vincent so geliebt hat. Wie oft er die Landschaft um Arles (das „es“ spricht der Franzose nicht aus; die Stadt wird daher einfach „Arl“ gerufen…) in leuchtenden Farben malte oder Details aus der Umgebung kann man schon kaum noch aufzählen. Vor allem, weil er oft ein altes Bild übermalte, weil er keine neue, frische Leinwand mehr hatte. Auch Saintes-Maries-de-la-Mer – am Südende der Carmargue gelegen – liebte er, malte die Zugbrücke oder die Fischerboote am Mittelmeer. Saintes-Maries ist Wallfahrtsort der Gypsies, die viele Deutschen trotz Goran Bregovics „Time of the Gypsies“ und der musikalischen Erfolge der Gypsy Kings, nach wie vor Zigeuner nennen. Nun, diese Menschen treffen sich in der Stadt der Heiligen Maria, waschen dort ihre Madonnastatuen und das scheint gar nicht mehr so lange hin zu sein bis zur nächsten Wäsche, denn bei Lidl … ja, ja, Deutschland hat Europa durchaus mehr zu bieten, als nur Aldi … bei Lidl also, an der Avenue Foirail, war alles voller weiblicher Gypsies. Oder wie nennt man sie politsch korrekt? Gypserinas? Gut. Jedenfalls sind auch die anscheinend äußerst preisbewusst.

Zu meiner Schande muß ich hier auch noch gestehen, dass ich mich bei Lidl noch besser zurecht gefunden habe, als gestern bei Aldi, denn es gab bei Lidl in Saintes-Maries-de-la-Mer aus meiner Sicht noch mehr Produkte mit heimischem Wiedererkennungswert, viele sogar mit deutschem Erstaufdruck und die französische Gysserina, Gypsieuse, Gypsy-Frau muss dann auf der Rückseite nachlesen, um was es sich bei dem angebotenen Produkt in Wirklichkeit handelt. Auch hier an der Mittelmeerküste kann man mit Kreditkarte zahlen und davon hatten die – nennen sie sich vielleicht gar GypsyInnen? Ich gebe es auf und zu: ich habe keinen blassen Schimmer – jedenfalls hatten sie eine Menge von Kreditkarten, aus denen sie die eine auswählten, die es dann an der Lidl-Kasse sein sollte.

JEZT - Rainer Sauer - 17 Tage Europa - Fischerboot am Strand von Saint-Marie-de-la-Mer - Vincent van Gogh

„Vissersboten op het strand van Les Saintes-Maries-de-la-Mer“/ Vincent van Gogh 1888 / Van Gogh Museum Amsterdam

Aber Arles liegt auch nahe Marseille, der Stadt von der die Franzosen die Marseillaise übernommen haben („Allons enfants de la Patrie,Le jour de gloire est arrivé!“) und die dafür als Dank jede Menge nordafrikanische Einwohner bekommen hat. Deshalb wundert es mich nicht, wenn bei Lidl neben – einigen wir uns jetzt bitte endgültig auf: Romanistinnen – auch Algerierinnen einkaufen. Dies muss Lidl schon vorher gewusst haben, denn man kann dort im Supermarkt etwas kaufen, was es sonst bisher nirgends gibt: Couscous. „Voorgekookt“ besagt die Packung und „Eerste Kwaliteit“. Das macht mich neugierig und ich lese nach. Tatsächlich stammt das Couscous nicht direkt aus Afrika, sondern wurde in Belgien für Lidl „geproduceerd“. Ah, denke ich, deshalb auch die Angaben über „Ingredienten“ und „Energetische waarde“ auf der Packung. – Ob’s die algerische Mutter mit drei Kindern und einem vierten im Bauch interessiert? Auf jeden Fall ist Arles aus meiner Sicht ein weiterer Beweis für das Zusammenwachsen Europas, jedenfalls, was das Essen betrifft.

Übrigens kann man auch nach Arles oder nach St.-Marie fahren, um im Meer baden zu gehen. Mir war es jedoch viel zu voll am Strand und ich stand unter Zeitdruck, wollte unbedingt bis zum Abend noch in mein Zelt am Ufer der Saône zurück – immerhin fünf Stunden Fahrt, wenn alles glatt läuft. Fischerboote, wie bei Vincent, lagen keine im Sand und ins Meer gehen kann man woanders auch, dachte ich mir. Viel interessanter war für mich die Tatsache, dass die jungen urbanen Französinnen und Franzosen hier mindestens noch eine Ecke schneller fahren, als in Macon. Ob das an der Nähe zu Marseille und St. Tropez liegt oder an den Filmen des Cinema Noire mit Ventura, Delon oder Noiret? Ich kann darauf keine Antwort geben, denke aber dass sich vielleicht aus den dort gezeigten Verfolgungsjagden der ur-menschliche Jagdtrieb wieder ausgebildet hat und viele Franzosen denken wahrscheinlich, dass alle Welt denkt, dass Franzosen einfach so fahren müssen: schnell und wahnsinnig … äh, ich meinte natürlich … wahnsinnig schnell. Könnte darin nicht ein kleines Körnchen Wahrheit liegen?

Was die Rückfahrt betrifft: es ist ein wirklich heißer Tag, dazu noch das Mittelmeer-Klima, salzhaltige Luft und so weiter. Als es auf halb drei am Nachmittag zugeht, verschiebe ich die Rückfahrt lieber auf den nächsten Tag, genieße meine Zeit am Meer, schreibe ein wenig und übernachte schließlich in meinem Hotel Stern an der Mündung der Rhône.





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