„Die Faszination des Bösen“: Jenaer Historiker und Siegener Kulturwissenschaftlerin veröffentlichen Buch über den Fall Bruno Lüdke

23.04.18 • INFOS FÜR STUDIERENDE, JEZT AKTUELL, KULTUR & BILDUNG, NEWSCONTAINER, START, UNSER JENA, WISSENSCHAFT, MEDIZIN & TECHNIKKeine Kommentare zu „Die Faszination des Bösen“: Jenaer Historiker und Siegener Kulturwissenschaftlerin veröffentlichen Buch über den Fall Bruno Lüdke

Der Fall Bruno Lüdke – Foto © Susanne Regener

Das Böse übt seit jeher einen morbiden Zauber auf das Publikum aus. Egal ob fiktive Serienmörder wie Hannibal Lecter im Kinoerfolg „Das Schweigen der Lämmer“ oder Berichte über reale Täter wie Jeffrey Dahmer oder Andrei Tschikatilo: Mit „Sex and Crime“ lässt sich prima Kasse machen. In der jungen Bundesrepublik ergötzten sich Leser und Kinogänger an der dämonischen Figur des Massenmörders Bruno Lüdke.

„Spiegel“-Gründer Rudolf Augstein schrieb über Lüdke in einer Artikelserie über den Chef der deutschen Kriminalpolizei Arthur Nebe; der Journalist und Bestseller-Autor Will Berthold legte mit 15 „Tatsachenberichten“ über Lüdke eine „Leimspur“ für das Publikum. Und ein junger Schauspieler namens Mario Adorf brillierte 1957 als Lüdke in dem preisgekrönten Film „Nachts, wenn der Teufel kam“ von Robert Siodmak. Der Mensch Bruno Lüdke geriet bei dem Trubel vollends in den Hintergrund. Geboren wurde der Kutscher und Hilfsarbeiter Bruno Lüdke 1908 in Cöpenick bei Berlin. Im Jahr 1940 wurde er auf Beschluss eines „Erbgesundheitsgerichts“ zwangssterilisiert, die Diagnose lautete „erblicher Schwachsinn“. Im Zuge einer Mordermittlung wurde Lüdke drei Jahre später verhaftet. In suggestiven Verhören nahm er 53 Mordfälle auf sich, vornehmlich an Frauen, seit 1924 im gesamten Reichsgebiet verübt. Mitte April 1944 wurde Bruno Lüdke im Wiener „Kriminalmedizinischen Zentralinstitut“ insgeheim ermordet.

Lichtbildsammlung im Fall Bruno Lüdke – Foto © Susanne Regener

Wie wurde Bruno Lüdke zum „Teufel in Menschengestalt“? Welche Interessen verfolgten Polizei und Justiz im Dritten Reich? Und weshalb traf die Schauergeschichte vom „Monster“ Lüdke in der Bundesrepublik den Nerv des Publikums? Diesen und weiteren Fragen sind Dr. Axel Doßmann und Prof. Dr. Susanne Regener nachgegangen. Der Historiker von der Universität Jena und die Kulturwissenschaftlerin von der Universität Siegen haben jetzt das Buch „Fabrikation eines Verbrechers. Der Fall Bruno Lüdke als Mediengeschichte“ veröffentlicht. Das Buch klärt auf über Kriminalität, Gewalt und rassistische Menschenbilder im 20. Jahrhundert, ist dabei spannend wie eine Detektivgeschichte. „Wir präsentieren nicht einfach nur per Text unsere Forschungsergebnisse; auch die Buchgestaltung von Markus Dreßen stellt den Lesern viele Quellen direkt und beziehungsreich vor Augen: Tatortfotos, Verhörprotokolle, die Büste Lüdkes von 1944, Geheimdokumente, Filmplakate und Zeitschriftenartikel der 1950er Jahre. Leserinnen und Leser sollen sich selbst ein Bild machen, unsere Deutungen konkret nachvollziehen können“, sagt Axel Doßmann.

Susanne Regener stieß bereits in den 1990er Jahren auf Bruno Lüdke. Für ihre Habil-Schrift besuchte sie die Polizeihistorische Sammlung in Berlin und ging der Frage nach, welche gesellschaftliche und kulturelle Bedeutung „Verbrecherfotos“ sowie ausgestellte Artefakte wie ein Handabguss Bruno Lüdkes haben. Der Kriminalfall Bruno Lüdke macht die Fabrikation von Menschenbildern und Vorstellungen vom Bösen deutlich. So legen die Indizien nahe, dass ranghohe Nazis aus dem Reichssicherheitshauptamt den Fall Lüdke als Vorwand nutzen wollten, um ein neues sozialrassistisches Gesetz gegen die sogenannten Gemeinschaftsfremden auf den Weg zu bringen. „Damit wäre es legal geworden, alle unangepassten Deutschen zu verfolgen und sie zu ermorden“, sagt Axel Doßmann. Als geisteskranker „Massenmörder“ hätte Bruno Lüdke die passende Folie für dieses Gesetz geliefert. Zweifel melden Regener und Doßmann auch in Bezug auf bisherige Thesen zur Ermordung Lüdkes an.

Mit hoher Wahrscheinlichkeit starb Bruno Lüdke infolge eines Experiments mit vergifteter Munition. Ziel dieser „Geheimen Reichssache“ war es, Attentate auf hochrangige Politiker zu erproben. „Zweifellos war Bruno Lüdke ein NS-Opfer und kein Massenmörder“, konstatiert Axel Doßmann. „Doch nicht allein die Nazis, auch die bundesdeutsche Presse und Justiz haben Mitverantwortung am Mythos Serienkiller: vor genau 60 Jahren, am 17. April 1958, hatte das Hamburger Landesgericht die Fake News vom Massenmörder juristisch sanktioniert.“

Bereits Mitte der 1990er Jahre hatte der niederländische Kriminalist Jan A. Blaauw in akribischer Kleinarbeit nachgewiesen, dass Lüdke wohl keine einzige der ihm zur Last gelegten Taten begangen haben kann. Das Buch von Doßmann und Regener beleuchtet diesen Kriminalfall jetzt in seinen historischen und medienwissenschaftlichen Dimensionen und lässt dabei Parallelen bis in die Gegenwart erkennen. Denn geistig behinderte Menschen und andere Außenseiter geraten auch heute noch unschuldig allzuleicht in die Mühlen von Strafverfolgung und Justiz.





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