„Wenn Lesen eine Qual ist“: Neues UKJ-Forschungsprojekt zur Therapie bei der Lese-Rechtschreibstörung gestartet

05.10.15 • JEZT AKTUELL, START, WISSENSCHAFT, MEDIZIN & TECHNIKKeine Kommentare zu „Wenn Lesen eine Qual ist“: Neues UKJ-Forschungsprojekt zur Therapie bei der Lese-Rechtschreibstörung gestartet

JEZT - Diplom-Psychologin Dr Carolin Ligges - Foto © UKJ

Diplom-Psychologin Dr. Carolin Ligges leitet die Studie zusammen mit Medizininformatiker Professor Dr. Herbert Witte. – Foto © UKJ

Was reimt sich auf Maus? Auf dem Bildschirm vor Tom erscheinen verschiedene Wörter zur Auswahl. Während der Achtjährige den Buchstaben die richtigen Laute zuzuordnen versucht, werden in seinem Gehirn einzelne Areale aktiviert. Tom fällt diese Aufgabe nicht leicht, er leidet an einer Lese-Rechtschreibstörung (LRS). Werden in seinem Gehirn andere Areale als bei Normallesenden aktiv, die vor derselben Aufgabe sitzen? Funktioniert bei ihm der Informationsaustausch zwischen den einzelnen Arealen schlechter? Welche Auswirkungen hat eine gezielte Therapie auf seine Hirnfunktion? Werden andere Areale aktiv oder verbessert sich die Interaktion?

Um die Störungsmechanismen der LRS und deren Therapiemöglichkeit besser zu verstehen, ist am Universitätsklinikum Jena ein neues Forschungsprojekt gestartet. Die Kooperation zwischen der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie und dem Institut für Medizinische Statistik, Informatik und Dokumentation wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) im Bereich Medizininformatik gefördert. „Die Methode ist äußerst komplex“, so Diplom-Psychologin Dr. Carolin Ligges (Foto). Die Schüler, die an der Studie teilnehmen, merken davon wenig. Tom sitzt in einem gemütlichen Stuhl im kindgerechten EEG-Labor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie während der Computer ihm eine neue Aufgabe stellt. Eine Art Badehaube mit Elektroden misst an seiner Kopfoberfläche, was beim Lesen passiert.

„Über spezielle Algorithmen können wir aus diesen Daten in die Tiefe rechnen, um die beteiligten Hirnareale zu lokalisieren“, so Medizininformatiker Professor Dr. Herbert Witte. Seit vielen Jahren feilt er mit seinem Team an den dafür notwendigen Methoden und entwickelt immer neue Algorithmen – die auch in anderen Zusammenhängen wie beispielsweise bei Epilepsiepatienten zur Anwendung kommen. „Spezialität unseres Instituts ist dabei, nicht nur die Aktivität einzelner Areale zu erkennen, sondern die gerichtete Interaktion zwischen Hirnregionen während des Verarbeitungsprozesses, also die zeitlichen Wechselwirkungen im Hirnnetzwerk analysieren zu können“, so Prof. Witte.

Die bisherigen Studien in Jena und die weltweite Forschung zur LRS liefern immer wieder Hinweise darauf, dass es sich um ein Störungsbild mit neurobiologischer Basis handelt. Nur selten können die betroffenen Kinder schlecht hören oder sehen. Viel häufiger sei ein phonologisches Defizit, so Dr. Ligges. „Ein Großteil der Kinder hat vor allem Schwierigkeiten, Sprachlaute zu verarbeiten.“ Die Forscher vermuten, dass hierbei die Interaktion der Hirngebiete eine wesentliche Rolle spielt. Ein Dreivierteljahr lang erhalten Kinder mit einer Lese-Rechtschreibstörung nun einmal pro Woche eine gezielte Therapie. Die Hirnaktivitäten vor und nach der Therapie werden verglichen, auch mit Ergebnisse von normallesenden Schülern und Kindern mit LRS, die erst nach einem Warteintervall eine Therapie erhalten haben. Im Fokus stehen Schüler der zweiten und dritten Klasse, da erst in diesem Alter eine „gefestigte“ Diagnose gestellt werden kann.

„Fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung leidet an einer LRS – weltweit“, sagt Dr. Ligges. In fast jedem Klassenzimmer sitzt also ein Kind, dem Lesen und Schreiben massive Schwierigkeiten bereiten. Weil diese Fähigkeiten in unserer Kultur eine hohe Bedeutung haben, leiden die betroffenen Kinder und ihre Familien immens. „Eine nichtbehandelte LRS geht dadurch mit einem erhöhten Risiko von psychischen Folgeerkrankungen wie somatische Störungen, Schulängsten oder Verhaltensstörungen einher“, so Dr. Ligges. Damit es gar nicht erst dazu kommt, sollte jedem betroffenen Kind eine adäquate Diagnostik und Therapie finanziert werden. Da dies in Deutschland bisher nur geschieht, wenn weitere psychische Auffälligkeiten auftreten, fordert die Psychologin ein Umdenken in der Gesundheitspolitik – „um den Kindern eine Chance einzuräumen, einen Bildungs- und Arbeitsweg einzuschlagen, der ihrer Begabung entspricht.“

Für das Projekt werden noch Kinder mit einer Lese-Rechtschreibstörung sowie normallesende Kinder gesucht, die derzeit die zweite oder dritte Klasse besuchen und an einer wissenschaftlichen Untersuchungsreihe mitmachen wollen. Die Kinder mit LRS erhalten im Verlauf des Projekts eine Therapie. Interessierte Eltern können sich beim UKJ melden über E-Mail: carolin.ligges [at] med.uni-jena.de.





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