17 TAGE EUROPA: Freitag 2002-07-26 | EUROPÄISCHE MENTALITÄTEN

26.07.17 • INTERESSANTES, JEZT AKTUELL, KULTUR & BILDUNG, STARTKeine Kommentare zu 17 TAGE EUROPA: Freitag 2002-07-26 | EUROPÄISCHE MENTALITÄTEN

Der zweite Tag: Baden-Baden/Offenburg/Mulhouse/Besancon/Beaunne/Chalon-sur-Saône

Losung am 26. Juli

„Quand tu veux construire un bateau,
ne commence pas par rassembler du bois,
couper des planches et distribuer du travail,
mais reveille au sein des hommes le desir de la mer grande et large.“

„Wenn Du ein Schiff bauen willst,
so beginne nicht damit Holz zu sammeln,
Bretter zuzuschneiden oder Arbeiten zu verteilen,
sondern erwecke den Menschen die Sehnsucht nach dem großen, weiten Meer.“
(Antoine de Saint-Exupéry, genannt ‚Saint-Ex‘)

Geboren wurde ich in Offenbach am Main. Kurioserweise liegt zwischen Baden-Baden und meinem für heute geplanten Übertritt auf französisches Territorium ein Städtchen ähnlichen Namens: Offenburg, welches in unseren Landen vor allem durch seine Beherbergung des BURDA-Verlages bekannt sein dürfte. Etwa halb so viele Einwohner wie Offenbach am Main hat es, und so sind es die Unterschiede zwischen Offenbach und Offenburg, die mein Interesse weckten. ‚Meyers Handlexikon Band 2 -Lb bis Z‘ – im Jahre 1977 in der Deutschen Demokratischen Republik gedruckt und von mir kurz vor der Reise günstig in einem Antiquariat erstanden (‚Band 1: -A bis La-‚ wird von mir zwar schmerzlich vermisst, aber da ich es nicht ändern kann, muss ich sozusagen mit der Halb-Welt auskommen und werde wohl niemals erfahren, was ein Lama wirklich ist: südamerikanisches Nutztier oder tibetischer Religionsführer) – kennt zwar Offenbach am Main, verschweigt dem Leser jedoch, dass es auch ein Offenburg gibt.

Dafür gibt es auf meiner Autobahn eine ‚Offenburg‘ betitelte Abfahrt, die ich am zweiten Tag meiner Reise bereits gegen acht Uhr morgens nutze. Dabei bewegt mich die Frage: Weshalb durfte der gelernte DDR-Bürger nicht wissen, dass es Offenburg gibt? Und warum sind sonst selbst winzige Flecken in Meyers Handlexikon verzeichnet, deren Namen ich hier gar nicht wiedergeben kann oder will. Gut, Nowosvetlonsk wird (aus Gründen, die sich im späteren Ablauf dieses Büchleins noch zeigen werden) ebenfalls nicht erwähnt, dafür aber immerhin Noworossijsk … aber darum soll es ja eigentlich nicht gehen.

Offenburg unterscheidet sich von Offenbach zu aller erst dadurch, dass ein Wasser durch die Stadt läuft: spielerisch kultiviert in kleinen aber feinen Rinnsalen. Außerdem ist die Innenstadt voller Skulpturen. Fast alle sind beweglich, ihre Glieder sind drehbar und das bereitet vor allem den Kindern großen Spaß. Vor einem Schreibwarengeschäft gibt es als Sonderangebot kleine Notiz-Kladden für einen Euro das Stück. Acht dieser Notizbücher legte ich an der Kasse auf den Tresen und man will mir 36 Euro dafür berechnen. Ich mache ein strenges Gesicht. „Oh! Entschuldigen Sie“, sagt die Dame zu mir, „die sind ja reduziert worden“. Nun möchte sie 16 Euro von mir haben und ich merke, dass der Schwabe an sich ein Mensch ist, dem das Geld lieb und teuer ist. Ich amüsiere mich und zahle trotzdem die geforderten 16 Euro: acht Euro für die Kladden und acht Euro Gage für die Dame. Sie will das erst gar nicht annehmen und bedankt sich schließlich artig. Und dann kommt mir der Gedanke des Tages: Der Euro hat vielleicht nicht nur etwas mit Europa und seinen Finanzen zu tun, sondern auch mit europäischen Mentalitäten.

JEZT - Rainer Sauer - 17 Tage Europa - 2002-07-26 - Chalon-sur-Saone - Carte

Um die Mittagszeit fahre ich wieder auf die Autobahn, Richtung Basel, und die führt mich direkt auf die Autoroute (nebst eigenem Radioprogramm auf UKW 107,7 Mhz) nach Chalon-sur-Saône – dorthn, wo Frankreich am französischsten ist und ein Campingplatz so nah am Herzen der Stadt liegen soll, dass man es fast schlagen hört. Da meine älteste Tochter mich vor der Abfahrt fragte, was denn alles so in Chalon passiert ist, warum dieser Ort so wichtig sei, dass ich ihn anfahre? Sie wisse doch, dass ich nur Orte und Landschaften aufsuchen würde, an denen irgend etwas geschehen ist oder mit denen etwas verbunden wird, was für Europa bedeutend ist, erklärte sie mir, denn schließlich hätte ich ihr das vorher so gesagt. Ein schlaues Mädchen! Hier die einfache Erklärung: Chalon ist in erster Linie mein heutiges Ziel, weil es zentral auf meiner Reiseroute des Monats Juli liegt. Das französische Herz, hatte ich ja bereis erwähnt; mit meinen Eltern besuchte ich die Stadt mit ihrem Campingplatz Anfang der 1970er Jahre und ich verliebte mich in diesen Ort. Bleibt als drittes Argument pro Chalon-sur-Saône , dass man ‚Saône‘ phonetisch wie ‚Sonne‘ ausspricht. Wer könnte also einer solchen Stadt widerstehen?

Und noch einen weiteren Grund kann ich aufbieten: In Chalon wurde 1765 Joseph Nicéphore Niepce geboren. Der Name sagt Ihnen nichts? Nun, es ist der Mensch, der 1822 die ersten Photographien herstellte. Doch es erging ihm wie Cristóbal Colómbus und dem von ihm entdeckten Erdteil, der später nicht nah ihm sondern aufgrund des Irrtums des deutschen Kartographen Martin Waltzemüller nach dem Vornamen des italienischer Seefahrers Amerigo Vespucci genannt wurde. Europäer sorgten eben  schon immer für Verwirrung und deshalb ist es kein Wunder, dass die Erfindung des Photoapparates für immer mit dem Namen eines anderen Franzosen verbunden wird, dem von Monsieur Daguerre, der erst sechs Jahre nach Joseph Nicéphores Tod dessen Fototechnik weiterentwickeln konnte. Monsieur Niepces postmortaler Bescheidenheit zum Trotz und seiner Erfindung zu Ehren hat man ihm in Chalon-sur-Saône ein großes Museum gewidmet.

Rainer Sauer 17 TAGE EUROPA – Chalon-sur-Saône en début de soirée 2002-07-26

Es ist Freitag, später Nachmittag, als ich auf dem Campingplatz in Saint-Marcel am Ufer der Saône einchecke, den zugewiesenen Stellplatz finde, mein Zelt aufbaue und auf Chalon blicke. Schnell vor Sonnenuntergang noch in die Stadt und ein Baguette gekauft. Eine Pflicht, keine Kür, denke ich, die kein Problem darstellen sollte, bestelle ein Baguette … und erhalte zwei. Ich wiederhole noch einmal, dass ich EIN Baguette haben möchte. Die nette Verkäuferin nickt mit freundlich zu, versucht meinen Fingerzeig richtig zu deuten … und legt noch eines weiteres drauf. Bezahlt wird in Euro, der Einheitswährung – die Einheitssprache wurde dagegen noch nicht gefunden. Dafür habe ich jetzt zumindest genug Brotreserven für meine weitere Reise.





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