Neue Hilfsangebote verbessern die Versorgung: „NeST“, das Thüringer Netzwerk gegen Suizid, besteht seit einem Jahr

03.04.19 • JEZT AKTUELL, NEWSCONTAINER, START, UNSER JENA, WISSENSCHAFT, MEDIZIN & TECHNIKKommentare deaktiviert für Neue Hilfsangebote verbessern die Versorgung: „NeST“, das Thüringer Netzwerk gegen Suizid, besteht seit einem Jahr

Das NeST-Projektteam am UKJ (v.l.n.r.): Dr. Gerd Wagner, Helen Nothnagel, Prof. Karl-Jürgen Bär, Sebastian Phieler, Marlehn Lübbert und Marco Lohwasser. – Foto © UKJ

(ukj/boe) – Mehr als 300 Menschen begehen jedes Jahr in Thüringen Suizid. Damit gehört der Freistaat zu den Bundesländern mit der höchsten Selbsttötungsrate. „Um mehr Leben zu retten, müssen alle Institutionen, die suizidgefährdete Personen betreuen, enger vernetzt werden. Außerdem ist es notwendig vorhandene Hilfsangebote aus- und neue aufzubauen“, beschreibt Prof. Karl-Jürgen Bär, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Jena (UKJ) und Projektleiter, das Ziel des Netzwerks für Suizidprävention in Thüringen, kurz NeST. Seit einem Jahr kooperieren die Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie am UKJ, den Thüringen-Kliniken „Georgius Agricola“ Saalfeld und am Asklepios-Fachklinikum Stadtroda in diesem Netzwerk. Mit neuen Therapieangeboten, einer Beratungsstelle für Betroffene, zahlreichen Weiterbildungen und Aktionen hat NeST bereits viel erreicht. Bis Ende 2020 wird das Projekt vom Bundesministerium für Gesundheit mit etwa 540.000 Euro gefördert.

Ob Telefonseelsorge, sozialpsychiatrische Dienste oder Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie, die Auswahl an Akteuren in Thüringen ist groß – aber unübersichtlich für Menschen in Krisensituationen und Angehörige. „Deshalb haben wir in einem ersten Schritt die vorhandenen Angebote in einer Broschüre zusammengefasst und mit Informationen zu Risikogruppen und Warnsignalen ergänzt“, so Diplom-Psychologe Sebastian Phieler von der NeST-Projektgruppe. Ein weiteres Problem der Präventionsarbeit: Bisher gab es keine umfangreichen Statistiken zu Suizidversuchen in Thüringen. „Erst seit Projektbeginn erfassen die beteiligten Kliniken systematisch Daten bei Patienten, die nach einem Selbsttötungsversuch stationär behandelt werden“, sagt Dr. Gerd Wagner, stellvertretender Projektleiter von NeST am UKJ. Neben demografischen Faktoren wie Alter und Wohnort werden auch Vorerkrankungen, die bisherige medizinischen Versorgung, Motive für den Suizid und die Suizidmethoden in einem Gespräch mit den stationären Patienten besprochen und dokumentiert. „Diese Daten stellen eine wichtige Grundlage für weitere Präventionsmaßnahmen dar“, ergänzt Dr. Wagner.

Menschen mit suizidalem Verhalten benötigen jedoch nicht nur Informationen, sondern auch individuelle Therapien – um Krisensituationen vorzubeugen sowie die stationäre Therapie und die Betreuung nach der Entlassung zu verbessern. „Aktuelle Studien belegen, dass Personen, die durch ihre sexuelle Orientierungen belastet sind, häufiger zur Selbsttötung neigen“, weiß Diplom-Sozialpädagoge Marco Lohwasser von der NeST-Projektgruppe. Abhilfe schafft hier seit Ende 2018 ein neues Beratungsangebot: Die LSBTIQ*-Beratungsstelle im Frauenzentrum Weimar – das erste professionelle Beratungsangebot dieser Art in Thüringen. LSBTIQ* steht für unterschiedliche Geschlechter und sexuelle Orientierungen im queeren Spektrum. Zudem entwickelte das NeST-Projektteam neue Angebote für Patienten während und nach der Therapie. Das sogenannte Healthy-Lifestyle-Programm vermittelt Betroffenen nach ihrer Entlassung in Theorie und Praxis, wie sie mit Bewegung, Ernährung oder Stressbewältigung langfristig gesund leben können. „Von diesem Programm erhoffen wir uns auch einen suizidpräventiven Effekt“, so Sportwissenschaftlerin Helen Nothnagel von der NeST-Projektgruppe. Im Januar 2019 ist das Programm erstmals mit sechs Teilnehmern gestartet. Nach einer ausführlichen Evaluation soll das Angebot auf alle psychiatrischen Patienten erweitert werden.

„Aktuell gibt es keine klinische Therapie, die sich ausschließlich mit dem Suizidverhalten der Patienten beschäftigt“, so Dr. Wagner. Deshalb hat das Projektteam ein spezifisches Psychotherapieprogramm für Patienten mit suizidalem Verhalten entwickelt, bei dem sie lernen, Frühwarnzeichen einer Krise zu erkennen und entsprechend zu reagieren. Das Therapieprogramm soll ab Sommer 2019 in der Jenaer Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie angeboten werden.

Oft erkennen Angehörige und wichtige Schlüsselpersonen wie Lehrer, Erzieher oder Psychotherapeuten suizidales Verhalten nicht. Deshalb liegt ein weiterer Schwerpunkt von NeST darin, diese Personen individuell zu schulen. Mehr als 2.000 Menschen hat die Projektgruppe im vergangenen Jahr bereits mit verschiedenen Weiterbildungen erreicht. Nun weiten sie die Schulungen auf Hausärzte, Neurologen, Psychiater und Pflegekräfte aus. Da das Thema Suizid stark durch die Berichterstattung in den Medien geprägt ist, haben die Experten auch Journalisten und Polizisten im richtigen Umgang mit der Thematik geschult. Aber auch die Thüringer Bürger gilt es, für das Thema Suizid zu sensibilisieren und Vorurteile abzubauen. „Unter anderem mit der AGUS Wanderausstellung ‚Gegen die Mauer des Schweigens‘ in Jena, die die Situation der Angehörigen nach einem Suizid in den Fokus gerückt hat, oder mit Informationsständen zum Welttag der Suizidprävention haben wir viele Menschen erreicht“, freut sich Psychologin Marlehn Lübbert. „Daran wollen wir anknüpfen und noch weiter aufklären.“

Mit diesen und vielen anderen Angeboten entsteht ein Netz aus Hilfsangebote in Thüringen – und es wird weiter wachsen, um Suizidgefährdete und ihre Angehörigen noch besser zu betreuen.


Hinweis: Wir berichten in der Regel nicht über Selbsttötungen und thematisieren sie nicht, um keinen Anreiz für Nachahmung zu geben – außer: Suizide erfahren durch die Umstände besondere Aufmerksamkeit. Wenn Sie selbst depressiv sind, Selbstmord-Gedanken haben, kontaktieren Sie bitte umgehend die Telefonseelsorge (www.telefonseelsorge.de).

Unter der kostenlosen Hotline 0800-1110111 oder 0800-1110222 erhalten Sie Hilfe von Beratern, die Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen können. Sie haben suizidale Gedanken? Hilfe bietet die Telefonseelsorge (www. telefonseelsorge.de). Sie ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr unter 0800 – 111 0 111 und 0800 – 111 0 222 erreichbar. Dort erhalten Sie Hilfe von Beratern, die Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen können. Eine Liste mit bundesweiten Hilfsstellen findet sich hier auf der Seite der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention.





Kommentarfunktion derzeit ist geschlossen.

« »


JENAhoch2 | Omnichannel-Media für Stadt und Region