„Modellhaft – aber nicht perfekt“: Erziehungswissenschaftsteam präsentiert den Umgang mit Inklusion an Jenaer Schulen in neuem Buch

24.06.19 • INFOS FÜR STUDIERENDE, JEZT AKTUELL, KULTUR & BILDUNG, NEWSCONTAINER, POLITIK & URBANES LEBEN, START, UNSER JENA, WISSENSCHAFT, MEDIZIN & TECHNIKKommentare deaktiviert für „Modellhaft – aber nicht perfekt“: Erziehungswissenschaftsteam präsentiert den Umgang mit Inklusion an Jenaer Schulen in neuem Buch

Prof. Dr. Bärbel Kracke. – Foto: FSU Anne Günther

(Sebastian Hollstein) – Vor genau zehn Jahren hat Deutschland die UN-Konvention über die Rech­te von Menschen mit Behinderungen ratifiziert. Dadurch verpflichtete sich die Bundes­republik u. a. dazu, Kindern mit Lernbeeinträchtigungen den Besuch einer allge­meinen Schule zu ermöglichen – ein Gedanke, den bereits die UN-Menschenrechtskonven­tion festgehalten hatte.

Doch noch immer tun sich das deutsche Bildungssystem und seine Akteure schwer mit dem Thema Inklusion. Der Begriff scheint vielmehr in den Medi­en präsenter als in der deutschen Schullandschaft. Erziehungswissenschaftlerinnen der Friedrich-Schiller-Universität Jena und der Humboldt-Universität Berlin haben innerhalb zweier Projekte über sechs Jahre hinweg genauer beobachtet, wie die Stadt Jena und ihre Schulen die Inklusion von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förder­bedarf angehen. Ihre Ergebnisse präsentieren sie in einem nun veröffentlichten Sammel­band.

Jena ist in vielerlei Hinsicht Vorreiter, was Inklusion angeht“, sagt Prof. Dr. Bärbel Kracke von der Universität Jena. „Allein schon, dass sich die Zuständigen 2011 wissenschaftliche Expertise ins Boot geholt haben, um zu hinterfragen, wie das Thema an Jenaer Schulen behandelt wird – und mit welcher Qualität –, macht deutlich, welchen Stellenwert sie dem Thema beimessen.“ Damals lernten bereits 60 Prozent aller Schülerinnen und Schüler mit Lernbeeinträchtigungen in allgemeinen Schulen. Inzwischen sind es sogar 90 Prozent.

Cover des neuen Inklusionsbuchs – Foto: Waxmann Verlag

Um herauszufinden, was aktuell an Jenaer Schulen passiert, führten die Erziehungswis­sen­schaftlerinnen Interviews mit etwa 140 Personen aus ganz unterschiedlichen Berei­chen. „Wir haben mit Schulleiterinnen und -leitern, Lehrerinnen und Lehrern, Sonderpäda­goginnen und -pädagogen sowie mit Eltern gesprochen und darüber hinaus den Unterricht an fast allen Schulen beobachtet“, berichtet Krackes Mitarbeiterin Stefanie Czempiel. Da­bei haben die Expertinnen festgestellt, dass Inklusion auch in Jena durchaus nicht von al­len Schulen getragen wird, sondern dass es besonders engagierte Einrichtungen gibt, die sich dem Thema sehr intensiv widmen. So seien beispielsweise vor allem die Thüringer Gemeinschaftsschulen eine wichtige Anlaufstelle, da hier Schülerinnen und Schüler von der ersten bis zur zwölften Klasse gemeinsam lernen können und somit ein stabiles Um­feld ohne Schulwechsel gegeben ist.

Gymnasien hingegen verweigern sich größtenteils der Aufnahme von Schülerinnen und Schülern mit Lernbeeinträchtigungen und begründen dies mit dem höheren Leistungs­an­spruch. Doch will Bärbel Kracke das nicht gelten lassen: „Wissenschaftliche Studien sa­gen ganz klar, dass die schulische Leistung von Kindern ohne sonderpädagogischen För­derbedarf nicht leiden an Schulen, die inklusiv auch andere Kinder betreuen“, sagt die Je­na­er pädagogische Psychologin. „Im Gegenteil dazu zeigen andere Untersuchungen, dass die Sozialkompetenz der Kinder und Jugendlichen dadurch gefördert wird.“ Schule sollte immer offen sein für die soziale Vielfalt der Gesellschaft, um die Integration unserer hoch­kom­plexen Gesellschaft zu stärken. Außerdem sei wissenschaftlich nachgewiesen, dass die Schüler mit Lernbeeinträchtigungen vom Lernumfeld einer allgemeinen Schule profi­tieren und beispielsweise häufiger befähigt werden, eine Berufsausbildung zu absolvieren.

Es gibt viele Schulen hier, die sich dem Thema sehr aktiv zugewandt haben, die Konzepte entwickeln und umsetzen. Und es gibt einige wenige, die sich leider immer noch verwei­gern“, sagt Kracke. „Die meisten Lehrerinnen und Lehrer stehen dem Thema sehr offen ge­genüber. Wir haben in unseren Gesprächen häufig gehört, dass sie es gar nicht als so wich­tig empfinden, umfassend theoretisch auf Inklusion vorbereitet zu sein. Viel wichtiger sei es, sich einem Kind mit besonderem Förderbedarf zu öffnen, sich auf die Herausfor­de­rung einzulassen, gut mit den Eltern zu kommunizieren und stetig zielgerichtet fortzu­bil­den – dann kommt alles andere während des Machens.“    

Die Herangehensweise Jenas im Bereich Inklusion hat Modellcharakter für andere Kom­mu­nen, wie Vertreter des Deutschen Städtetages während der die Forschungsprojekte ab­schließenden Tagung bestätigten. Ihr Erfolg ist vor allem der Sensibilität der Verwaltung gegenüber dem Thema zu verdanken. „Zudem investiert die Stadt viel Geld in Schulbe­glei­tung, die zum einen die Kinder mit Hilfebedarf unterstützen und zum anderen in systemi­scher Funktion eine gesamte Klasse bereichern kann“, sagt Kracke. Zudem treffe sich ein Kreis aus Akteuren der Verwaltung und der Universität regelmäßig, um Prozesse auszu­werten und weitere mögliche Initiativen auf den Weg zu bringen. Eine Koordinierungsstelle innerhalb der Stadt zur Unterstützung von Eltern mit Kindern mit besonderem Förderbe­darf während der gesamten Bildungsbiographie wäre darüber hinaus empfehlenswert.

Das neu erschienene Buch wird den Kooperationspartnern des Forschungsprojektes und der Öffentlichkeit am morgigen Dienstag, dem 25. Juni 2019, von 14 bis 16 Uhr im Großen Rosen­saal präsentiert. Dazu sind alle Interessierten herzlich eingeladen.





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